10. Monat, Tag 03 im Jahre 18 n.A.
Die Zwillingsschwestern scheinen sich immer mehr und mehr zerstritten zu haben. Die eine zieht ins Dorf, während die andere immer mehr im Norden zu finden ist. Ich bin erstaunt, was ist stark genug, um die Bande zu trennen, die von Geburt an so inniglich bestehen?
Gespräche werden im Norden geführt. Es geht darum, gezielt ein Menschenleben zu beenden. Und wieder zeigt das Exil seine unbarmherzige Seite…
10. Monat, Tag 04 im Jahre 18.n.A.
Die Khitai und jene Nicht-Khitai, die bei ihnen lebt, sammeln sich. Diesmal bin ich besser vorbereitet, schicke zwei Spione mit, die sich am Gepäck und der Kleidung festhalten und verstecken. Sie reisen in den Dschungel, fahren in Booten den Fluss entlang, bis sie landeinwärts marschieren und die alte, lemurisch wirkende Ruine auf dem Felsen entdecken.
Sie nähern sich, gehen die ausgetretenen Stufen nach oben, die seit dutzenden von Jahren unberührt scheinen bis auf gelegentliche tierische Benutzer, von deinen den Khitai seine ausgeschiedene Mahlzeit frisch auf der Treppe hinterlassen hat. Einer meiner Spione wird zwar davon angezogen, aber ich festige die Kontrolle über ihn. Das ist keine Mahlzeit und er hat seine Bedürfnisse zurückzustellen. Ich muss sehen, was die Khitai vorhaben, was es mit der Ruine auf sich hat… Es ist wichtig.
Sie mustern das Gebäude, als es zu regnen beginnt, deuten auf das alte Banner mit lemurischen Schriftzeichen, das wohl “Versammlungshalle” zu heißen scheint. Efeu und Ranken, die sich an den Wänden hochwachsen, sehen aus, als könnte man an ihnen entlang hochklettern, doch ehe ich meinen Überlegungen nachgehen kann, höre ich, wie die Tür splittert. Zwei der kräftigeren Khitai brechen die alte Tür aus den Angeln, die so nachgibt und mit lautem Knall zu Boden kippt. Staub wirbelt auf. Der Regen wandelt sich in windeseile zu einem ausgewachsenen Sturm. - Sie alle treten rasch ein, getrieben von dem Unbill der Natur.
Im ersten Raum erwarten sie einige uralte Sitzbänke, von Moos und Schimmel überzogen durch eingedrungene Feuchtigkeit. Einer der Khitai, der Herrische, setzt sich auf eine der Bänke, die unter ihm nachgibt und zusammen kracht. Alte Vasen zieren den Raum, eine Statue eines lemurischen Kriegers, bei dem der Kopf fehlt und der Arm abgebrochen ist. Jadestatuen stehen in windschiefen Regalen und wandern, wie ich später feststelle, wohl in irgendwelche Beutel der durchaus diebischen Khitai.
Sie beginnen das Innere zu erkunden, stoßen auf einen Schlafraum, in dem frische Kerzen brennen. Das Bett sieht benutzt aus, der Schrank leer. Auf dem Tisch liegt ein Pergament, auf aquilonisch… ein Rätselvers.
Sie prägen ihn sich ein und untersuchen das Gebäude weiter, gelangen in eine große Halle, in dem die Kohlebecken an der Decke brennen, als wären die einstigen Bewohner noch nicht seit Jahrhunderten tot sondern nur kurz nach nebenan gegangen. Drei Throne stehen hinter einem alten, schweren und großém Tisch, wie die herrschaftlichen Sitze eines Tribunals. Eine Schriftrolle liegt auf dem Tisch, scheint - nachdem die Khitai drauf aufmerksam werden- aber nur eine Abschrift und Aufstellung von Abgaben und Steuern zu sein. Vor dem großen Tisch steht ein kleiner runder Tisch, darauf liegt ein Schädel. Er fehlt später… ich bin mir sicher, auch er wurde eingesteckt.
Es wirkt, als sei der Schädel einer derjenigen, die vom Tribunal verurteilt wurden und nun als Abschreckung dort liegt. - An den Wänden stehen drei steinerne Statuen, besser erhalten. Hier scheint nicht so viel Feuchtigkeit eingedrungen zu sein. Sie wirken wie Wächter, bereit, anzugreifen, doch sind es zum Glück nur leblose Statuen. Der Kamin an der Wand des Raumes ist leer und kalt. Türe zweigen ab zu einer Küche. Alte Fässer stapeln sich dort, Kisten, die untersucht werden und doch nur Jahre- oder Jahrezehnte lang verwesende Nahrung offenbaren, sofern überhaupt noch etwas ausser Schimmel und organisch verwesender Masse übrig ist.
In einer Ecke spüre ich das Nachbeben von Magie… als ob dort etwas Unsichtbares lauert, das freigelassen werden will. Auf der anderen Seite des Raumes klafft ein Riss in der Realität. Die Khitai besprechen sich, nähern sich, untersuchen beide Stellen, bis schließlich einer von ihnen sich dem Riss zu weit nähert, förmlich hinein gesogen und verschlungen wird. - Die Khitai zögern, beraten sich, aber halten zusammen, gehen einer nach dem anderen hindurch und ich mit ihnen in Form meiner kleinen Freunde.
Wir fallen etwas ein oder zwei Meter tief, landen weich im Sand. Ich höre das Stöhnen in der Dunkelheit um mich herum. Diffuses Licht dringt von oben und langsam erkenne ich die Schemen um mich herum. Ein alter Keller, wie es scheint, ein großes Weinfass… die Khitai tasten sich zur Treppe, stapfen hinauf und kommen an alten, morschen Schränken und Kisten vorbei, Gerümpel. Als sie ins freie Treten, beginne ich die Umgebung zu erkennen… ich war hier schon einmal… der Turm… die Anomalie. Aber sie… sie kennen all das nicht, erkunden die einzelnen Räume und als wir uns dem Turm nähern, bin ich enttäuscht. Die Anomalie ist weg. Im Turm oben haben die Spinnen ihre Netze neu gewoben und erneut werden diese zerrissen. Unter der Treppe auf einer Kiste finden die Khitai eine weitere Notiz. Ich bin mir sicher, dass diese neu ist… die lag vorher nicht dort. Oben ist das Portal verschwunden. Der Boden wirkt sauber, auf der Kiste liegt ein merkwürdig pulsierender Stein… Es scheint, als könne dieser etwas aktivieren. Die Khitai stecken ihn ein… diebische Khitai! Aber vielleicht nutzt es etwas, irgendwo. Ich frage mich, wie der Stein herkommt. Warum ist der Riss weg? Jemand war hier, definitiv.
Die Khitai beginnen den Keller zu entdecken, finden die Knochen von dem Ding, das wie ein Altar aufgebaut ist… sie winden sich durch die Gänge, gelangen zum Lager und in den Raum mit dem Beschwörungskreis, der nun halb verwischt ist. Ich weiß nicht, was sie tun, an der Wand prangt ein neues Portal… der Riss schimmert rötlich, unheilsschwanger, und je weiter sie sich nähern, umso lauter werden andere Geräusche… Sand und Staub rieselt von oben herab, dann prasseln Steine hinunter, alte Stützbalken brechen ein, Wände fallen zusammen. Die Gruppe nähert sich dem einzigen Ausgang und dann geht alles rasend schnell. Der Keller scheint zusammen zu brechen und die Gruppe flüchtet durch den Riss, ohne eine andere Alternative zu haben.
Ich höre befreites Lachen, als wir durch den Riss sind. Es fällt mir schwer, die Kontrolle über meine Spione aufrecht zu erhalten, die sich in der Welt an verschiedenen Orten innerhalb weniger Herzschläge aufhalten. - Wir stehen wieder in der Küche in den alten Ruinen, in der anderen Ecke. Und hinter uns tut sich ein Riss auf, nicht jener, der uns ausgespuckt hat, ein anderer, der auf den pulsierenden Stein reagiert. Ein kurzer Augenblick nur, ehe wir wieder eingesogen werden. Welch grausames Spiel der Götter!
Ich muss aufpassen, ich beginne mit der Gruppe zu sympathisieren, die ich beobachte, und doch bin ich kein Teil von ihr. Ich beobachte nur, lausche. Die Khitai landen in einem kleinen, runden Raum, ein Turm, wie sich später herausstellt. Unten befindet sich eine Schlafkammer, gefüllt mit Büchern und Schriften. Die diebischen Khitai lassen eine Karte vom Exil mitgehen, finden einen Schlüssel und ignorieren die Bücher und Schriften ansonsten. Weiter oben finden sie einen Raum, in dem Skelette an der Wand hängen, verhungert. Die armen Teufel. Wer tut soetwas?
An der Spitze des Turmes stutzen sie. Als sich mein Träger nähert, erkenne ich langsam, warum sie stocken. In der Mitte des Bodes ist der Himmel zu sehen, dutzende Sterne, die sich drehen und die sich bis in den Raum erheben als helle, leuchtende Funken. Dazwischen sieht man drei geisterhafte Gestalten. Ein Mann, der harsche Worte zu sprechen scheint, eine Frau, die kniet und eine zweite, die diese auspeitscht. An der Wand hängt eine Notiz. Wer auch immer hier lebt oder lebte… hat aufgeschrieben, was die Geister murmeln. Und nun scheint es an den Khitai, dies zu übersetzen, zu entschlüsseln… Stunde um Stunde reden sie, raten, rätseln… bis sie den Schlüssel, den sie in ihren Händen halten, entdecken… die Verse… Langsam beginnt es Sinn zu machen, ein Rätsel… in einem Rätsel… in einem Rätsel… es dauert, doch sie lösen es und die Sterne in der Mitte beginnen sich schneller zu drehen, heller zu glühen… Ein Wirbel entsteht, führt direkt ins Herz des Kosmos, wie es scheint, Wind kommt auf, wirbelt und saugt sie alle näher, wie ein schwarzes Loch, das alles verschlingt, was in seine Nähe gerät.
Kurz darauf finden sich die Khitai und ich woanders wieder. Lemurische Strukturen, aber keine Fenster, keine Treppen… Das Portal hinter ihnen verschwindet. Gefangen! Vor ihnen ein Raum mit 9 Feuerschalen, ein weiterer mit einem Podest, auf dem unter magisch anmutender Kuppel ein grüner, durchsichtiger Stein liegt, in dessen Inneren sich Etwas wie lebendig bewegt, hin- und herwirbelt, wie kleine Körner in einem Wasserglas, das kreisend geschüttelt wird. Vier Feuerschalen sind darum. Nur eine brennt.
Im letzten Raum befindet sich eine überdimensionale Statue eines Wächters, der grimmig aber leblos mit scharf aussehnder Waffe in Händen auf die Gruppe herab starrt. Die Gruppe beginnt die Räume zu untersuchen, dann, im ersten Raum mit den Feuerschalen, von denen einige brennen, andere nicht, zu spielen, lösen die Fackel an der Wand und entzünden die Schalen, wobei einige angehen, andere aus. Es dauert, scheint wie ein Muster zu sein, das sie ergründen müssen, ehe alle Schalen brennen und im Raum mit dem Podest wie von geisterhand eine zweite der vier Schalen entflammt.
Als sie den Raum mit dem Podest näher erkunden, finden sie eine versetzte Fackel, die sich herunter drücken lässt, und wie von Zauberhand entbrennt eine weitere Schale. Die Barriere senkt sich, wird dünner… der Stein greifbarer.
In dem Raum mit der riesigen Statue scheint sich nichts ausser der Statue zu befinden. Die Augen wirken etwas anders geschliffen, vielleicht sind sie von Wert. Die Gruppe sammelt sich in dem Raum, untersucht die Wände, den Boden. Einer versucht gar, die Statue zu erklimmen, ehe die Statue ihn plötzlich abschüttelt und zu Boden schleudert. Sie beginnt sich zu bewegen, lebendig geworden, während sich die Türen hinter der Gruppe schließen und ein fürchterlicher Kampf beginnt!
Befehle werden gebrüllt, Pfeile abgeschossen, die sich mit ihren metallenen Spitzen in die lebendig gewordene Statue bohren, die oberste Steinschicht durchdringen und stecken bleiben, als hätten sie Fleisch getroffen. Das große Schwert saust durch die Luft, flirrend, schneidend, doch verfehlt es. Klingen schlagegen gegen die Statue, weitere Pfeile sirren. Jemand schleicht sich von hinten heran, attackiert die Kniekehlen. Der Kampf wogt hin und her, und dann fällt der Riese, Risse im Stein, leblos wieder und kaum mehr wie Stein. Der herrische Khitai wirkt einen Zauber, die Risse verbreitern sich, die Statue wird sprichwörtlich gesprengt. Es bleibt kaum mehr zurück als kleine Steine, Sand und Staub… und das riesige Schwert als stummer Zeuge des Geschehens.
Im Nebenraum fällt die Barriere hinab, löst sich auf und gibt den begehrten Stein frei, den Stein der Winde… Sie nehmen ihn und der Stein passt in eine Vertiefung an der gegenüberliegenden Wand. Diese bricht daraufhin zusammen, eine Treppe freigibt, die aus ihrem Gefängnis führt. Am Fuße der Treppe ist eine massive Tür, die sich leicht öffnen lässt und sich hinter ihnen wieder fest verschließt. Sie sind im Freien, im Dschungel, hinter der Ruine, glücklich entkommen und mit dem gesuchten Artefakt in Händen. Allmählich kehren sie durch den Dschungel zurück zum Fluss, zu den Booten, und kehren nach Hause.
Ich lasse meine Spione frei und lehne mich zurück, grüble lange nach, über das, was ich gesehen habe…